Als Leopold von Ranke gelassen das große Wort aussprach, die Weltgeschichte zeige kein Fortschreiten der Menschheit auf ein gesetztes Ziel zu, sondern „jede Epoche sei unmittelbar zu Gott“, da legte er wohl in seiner behutsamen Art die Axt an die Wurzel des neuzeitlichen Optimismus der Europäer. Aber ihm war doch nicht bewußt, daß er von „Epoche“ wie von „Gott“ in ganz und gar europäischem Sinn sprach. Denn Epochen erkannte er nur in der abendländischen Geschichte an, und der Gott, der sich in ihrem Wandel offenbarte, war für ihn der christliche Gott.
Die Gleichsetzung von abendländischer Christenheit und Menschheit wurde erst von Oswald Spenglers Vehemenz angefochten. Seine These vom bevorstehenden „Untergang des Abendlandes“ versetzte dem Geschichtsbewußtsein der europäischen Elite einen Schock, für den es keine Therapie zu geben schien als das verblendete Sichfestklammern an den überkommenen Sendungsglauben. An die Stelle der Rankeschen Epochen traten bei Spengler die über den ganzen Erdball verteilten, einander ablösenden Kulturgestalten, die nicht mehr zum christlichen Gott „unmittelbar“ waren, sondern zu einer analogen, aber minder begrenzten Macht, der Spengler den Namen „Schicksal“ gab.
Inzwischen haben die Ereignisse selbst dem naiven Europäismus der Neuzeit den Garaus gemacht. Wir sind unter recht merklichen Zuckungen in ein Zeitalter gekommen, das die „faustische“ Kultur unter das Gericht der Weltgeschichte stellt. Dabei zeigt sich, daß auch der Spenglersche Entwurf eines Kreislaufs der Kulturen noch europäisch gedacht war; er nahm das „faustische“ Abendland als die für unser Jahrhundert schlechthin typische und verbindliche Kulturgestalt und setzte ihr die außereuropäische Welt als das von außen andringende Barbarische entgegen. Der Bolschewismus und die „gelben Völker“ rückten für ihn zusammen als die große Gefahr von morgen, und er beachtete nicht, daß im Sowjetsystem gerade das „faustische“ Prinzip bis zum Extrem überspannt ist, während, sich in der nichtsowjetischen Alten Welt (islamische Länder, Indien, China, Indonesien) ein Konflikt abendländischer Einschiebungen mit den mehr oder minder (aber gerade dies Mehr oder Minder ist von weltgeschichtlicher Bedeutung) resistenten Formen der alteingewachsenen Kultur vollzieht.
Das hat jene Kulturen, von denen man in Europa gemeint hatte, sie seien geschichtslos und also auch belanglos geworden – den Islam, den Hinduismus, den Buddhismus, den Taoismus –, zu äußerster geschichtlicher Aktualität gebracht. Es hat vor allem auch genötigt, eine Frage wieder aufzuwerfen, die man für längst erledigt hielt: die Frage nach der Stellung der Religionen in den Kulturen. In der europäischen Neuzeit hatte sich das Profane – Staat, Moral, Kunst – vom Religiösen so weit emanzipiert und dieses so weit in die Rolle einer Sondersparte der Kultur gedrängt, daß es zum Beispiel Spengler ganz selbstverständlich war, die nichtchristlichen Religionen in gleicher Rolle zu sehen – als Symptome gleichsam eines Kulturstils.
Hier vor allem mußte und, muß der nachneuzeitliche Europäer gründlich umlernen. Es gilt zu erkennen, daß es bisher, seit Beginn der Menschheit, nur ein einziges Mal eine säkularisierte, das heißt vom Religiösen zunehmend emanzipierte Kultur gegeben hat: unsere modernabendländische, und daß diese zwar in ihren säkularisierten Elementen (der Technik, der Wissenschaft, der Organisation) sich zur Weltkultur auszubreiten anschickte, daß sie aber wegen eben dieses Charakters nicht Kultur ist wie die Kulturen, auf die sie bei ihrer Ausbreitung auftrifft. Die „Krise“ der modern-abendländischen Kultur, das Gericht, das über sie gehalten wird, ist nichts anderes als ihr Auftreffen auf intakte Kulturen – und in diesem Auftreffen entscheidet sich, vorher nicht bestimmbar, die Zukunft der Menschheit.
Untergangsprophetien klammern sich starr an die ungünstige Eventualität; sie haben also nicht mehr Anhaltspunkte für sich als den Optimismus, den sie verspotten. Denn: „Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß nicht auch der gegenwärtige Prozeß der Säkularisierung schließlich durch eine Bewegung in anderer Richtung, das heißt zum religiösen Glauben und zur geistigen Ordnung hin, abgelöst werden könnte.“ So lautet das Resümee eines weltweiten, ebenso profunden wie hellsichtigen, ebenso gedrängten wie sorgsamen Überblicks über den Funktionswandel der Religionen, den der englische UniversalhistorikerChristopher Dawson (nicht ganz so berühmt wie Arnold J. Toynbee, aber nicht, minder nennenswert als dieser) 1947 in Edinburgher Vorlesungen gab und den der Verlag L. Schwann, Düsseldorf, jetzt der deutschen Öffentlichkeit vorlegt (.„Religion und Kultur“. 304 S., Leinen 12,– DM).
Ohne vertrauteste Kenntnis der nichtabendländischen Kulturen, der „primitiven“ (wofern es solche gibt) wie der höchstdifferenzierten, geht es dabei nicht ab; das sah schon Spengler, und das gab ihm den Vorrang vor der Zunft der Fachhistoriker, die seinen Willen zur universellen Erkenntnis vermessen fanden. Heute sind die wahren Präzeptoren Europas jene wenigen Gelehrten, die die Schranken des Europäismus übersteigen konnten, indem sie sich in das Spezifische aller Kulturen versenkten. Die Engländer Dawson und Toynbee gehören zu diesen Universalhistorikern, deren Wort gehört werden muß. In Deutschland ist seit Jahrzehnten Alfred Weber in diesem Sinn am Werk und beschreibt die Vielfalt der Kulturen als ineinander verwobene Aspekte einer inneren Einheit der Geschichte.
Einer Sammlung seiner grundlegenden Erwägungen („Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie“. R. Piper & Co. Verlag, München, 176 S., Leinen 13,50 DM) schließt er eine klassische Durchleuchtung der altägyptischen und der babylonischen Kultur – in ihrer Konstanz die schärfsten Gegensätze zur Dynamik der europäischen Neuzeit – an und zeigt damit, daß in der Tat jede, aber auch jede Epoche der Weltgeschichte, der gesamten, unmittelbar zwar nicht zum christlichen Gott als dem die Heiden verwerfenden, doch aber zu dem ist, was im Gestaltwandel der Götter dauert.
Christian E. Lewalter
Fonte: Zeit Online
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