Suche nach dem Abendland

Hagen. Das Abendland ist eine deutsche Erfindung. Im Herbst 1522 saß Martin Luther auf der Wartburg und übersetzte die Bibel ins Deutsche. Bei Kapitel 2, Vers 1 des Matthäus-Evangeliums gönnte er sich eine kleine, folgenreiche Extravaganz. „Magi ab oriente“ stand in der lateinischen Vorlage, „die Weisen aus dem Sonnenaufgang“. Osten sagen wir heute dazu, Osten oder „Morgen“ sagte man zu Luthers Zeiten. Aber er schuf ein neues Wort und schrieb „die Weisen aus dem Morgenland“. Das bürgerte sich ein, und schon 1529 fand sich, in den Schriften eines anderen Reformators, auch das Gegenstück dazu: Abendland.

Damit war eine Vokabel in der Welt, die heute in aller Munde ist: Pegida demonstriert gegen die Islamisierung des Abendlandes. Was steckt hinter dem Begriff?

Abendland und Morgenland – das sagte zu Luthers Zeit nichts über Identitäten. Es waren Wörter für Himmelsrichtungen. „Abendlender“ waren zunächst die westlichen Nachbarn der Deutschen. Auch das Morgenland in der Weihnachtsgeschichte war ja nur eine Gegend östlich des Heiligen Landes – schon Kairo wäre aus dieser Perspektive tiefstes Abendland.

Die Osmanen vor Wien
Kaum war es erfunden, war es auch schon bedroht. Im selben Jahr 1529 standen die Osmanen das erste Mal vor Wien. Wer in der Bibel las, der erkannte in den heidnischen Heeren jene Reiter der Apokalypse, die das nahe Weltenende ankündigten. Durch die ständigen Türkenkriege, die nun folgten, sollte sich diese endzeitliche Panik vor den Osmanen 150 Jahre lang halten. Die Angst schlug sofort ins Gegenteil um, als die Osmanen 1683 entscheidend geschlagen waren.

Dass das Abendland in Deutschland zum Kampfbegriff christlich-konservativer Kreise wurde, lag am romantischen 19. Jahrhundert. Das politisch und wirtschaftlich rückständige Land der Dichter und Denker gab sich der Sehnsucht nach der guten Zeit hin – dem Mittelalter, als Europa einig und fromm war. „Das ganze Abendland bis zu dem Eise des Nordpols hinauf ist in dieser geistigen Bande der Kirche beiein­ander, die ganze Christenheit weiß sich als eine Gemeinschaft“, schwärmte der Historiker Johann Gustav Droysen 1847 über das Mittelalter. Wahrscheinlich war das ein Zerrbild.

Doch wo lag es, das Abendland? Grenzen waren Geschmackssache. Meist wurden die Länder Ost- und Südosteuropas dem Morgenland zugerechnet, sie waren zwar christlich, aber orthodox. Der Historiker Leopold von Ranke wollte nicht einmal Polen und Ungarn zum Abendland zählen.

Die Idee, dass das Abendland untergehen könnte (während die Welt sich weiterdreht), geht auf 1918 zurück, als Oswald Spenglers umstrittenes Buch „Der Untergang des Abendlandes“ erschien. Spengler prophezeite, dass die Länder des Westens ihre Führungsrolle verlieren und ihre Bewohner künftig ein Leben als bessere Arbeitssklaven fristen werden. Mit Spengler kam die Angst ums Abendland zurück. Aber zu Pegida gibt es Unterschiede. Für Spengler gehörte Nordamerika zum Abendland, für viele bei Pegida undenkbar. Und Spengler sah das Abendland nicht durch Muslime bedroht – sondern durch eben jenes Land, das Pegida gerne in Schutz nimmt: Russland.

An diese Vorstellung knüpften auch die Nationalsozialisten an, aber sie taten es spät. Das Abendland war ihnen zunächst egal. Sie pflegten ihre eigenen Geschichtsmythen, ordneten die Welt nach „Rassen“ statt nach Himmelsrichtungen. Der Ton änderte sich nach Stalingrad: Nun rief Hitler den Kampf um die „Rettung des Abendlandes“ aus – um auch jene zu gewinnen, die dem NS-System skeptisch gegenüberstanden. Spätestens jetzt war ein Zustand erreicht, den der Historiker Wolfgang Benz kürzlich so beschrieb: „Abendland ist ein ganz weiter Begriff, da lässt sich beliebig viel eintüten.“

Adenauer und die Ost-Grenze
Vom Abendland zu reden, kam aber noch einmal mit Konrad Adenauer in Mode. 1949 erklärte er bei seinem Amtsantritt als Bundeskanzler, den „Geist christlich-abendländischer Kultur“ zum Fundament seiner Arbeit machen zu wollen. Das war Anti-Nazi, und es legitimierte die West-Anbindung der Bundesrepublik.

In diesem Sinne wurde 1950 der Karlspreis ins Leben gerufen. Er sollte Persönlichkeiten ehren, die den „Gedanken der abendländischen Einigung“ fördern – und erinnerte dabei an das mittelalterliche Reich Karls des Großen. Das war heikel, denn dieses Reich umfasste zwar fast das ganze heutige Frankreich sowie die Schweiz, die Benelux-Länder, Österreich, Teile Italiens und Deutschlands. Doch hier reichte es kaum bis an den Unterlauf der Elbe. Adenauer, dem Rheinländer, wird das genügt haben, als er 1954 den Preis bekam. Aber aus heutiger Sicht ist es bemerkenswert, dass Dresden nicht dazugehörte. Ausgerechnet.

Achim Beer

Fonte: Der Westen.

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